Violetten Schafen das Blaue vom Himmel versprechen
Endlich ist es draußen warm und wir können mit kurzen Hosen vor die Tür. Während meines Ausflugs mit meinem Hund zieht es mich hinaus auf die Felder. Mir kommt es wie gestern vor, als noch die erdigen Felder mit Eis überdeckt waren. Jetzt bläst Wind über die prachtvoll blühenden Kornfelder und malt hypnotisierende Muster in einem Meer aus Halmen und Wiesen. Der Himmel ist blau und wolkenfrei. Ein Storch kreist über meinem Kopf. Es ist Nachmittag und das Blau reicht von tiefem Dunkelblau im Osten bis zu einem warmen Orange im Westen.
Doch ist das Gelb der Felder und das Blau des Himmels wirklich gelb und blau? In der ukrainischen Flagge werden sie in diesen Farben abstrahiert dargestellt. Das Kornfeld ist Gelb, richtig? Aber eigentlich ist das Gelb kein richtiges Gelb, denn wie wir die Farbe sehen, hängt allein von unserer subjektiven Wahrnehmung ab. Und die ist so einzigartig und individuell wie Sandkörner am Meer – Mindfuck? Dann lest weiter!
Das, was wir sehen, ist zwar echtes Gelb, genauer gesagt handelt es sich jedoch um gelbes Licht. Denn Licht ist elektromagnetische Strahlung, die es in allen möglichen Wellenlängen gibt. Diese reichen von Röntgenstrahlen über Radiowellen bis hin zu UV-Strahlen. In diesem breiten Spektrum der Strahlung gibt es einen kleinen Bereich, in dem wir die Strahlung mit unseren Augen wahrnehmen können. Nämlich in Form von Farben im Längenwellenbereich zwischen 400 und 780 Nanometern. Rot ist dabei zum Beispiel länger wellig und violett kürzer wellig. Das Gelb der Felder befindet sich je nach Farbton im mittleren Bereich bei ungefähr 570 Nanometer. Das Licht der Sonne wiederum ist weiß, denn es beinhaltet alle Wellenlängen auf einmal. Wie kann man daraus allerdings eine einzelne Farbe erkennen?
Die Objekte – in unserem Fall das gelbe Feld – absorbieren das Licht, indem es praktisch verschluckt wird. Außer die gelbe Wellenlänge, denn diese wird reflektiert und trifft im Auge auf die in der Netzhaut liegenden lichtempfindlichen Rezeptoren. Die Stäbchen sind für hell und dunkel zuständig, die Zäpfchen für Farben. Wir Menschen funktionieren aufgrund der Trichromaten praktisch wie ein alter Röhrenfernseher. Wir haben drei verschiedene Farbrezeptoren für jeweils Blau, Rot und Grün auf unserer Netzhaut, die verschiedene Wellenlängen absorbieren können. Die Farbe Gelb fällt in den Zuständigkeitsbereich der grünen als auch der roten Rezeptoren. Gemeinsam geben diese unserem Gehirn die Information weiter, dass es sich hier um Gelb handelt.
Das Spannende daran: Sobald ihr ein Foto des Kornfeldes macht, seht ihr auf dem Display kein echtes Gelb mehr. Denn Bildschirme nutzen das Farbmodell RGB (Rot, Grün und Blau). Würde man also sehr weit in das Gelb hineinzoomen, würde man sehen, dass die Farbe Gelb am Bildschirm aus den Farben Rot und Grün besteht. Das Besondere daran ist, dass sich physikalisch rotes und grünes Licht eigentlich nicht mischen lassen. Denn das bedeutet, dass man zwei verschiedene Wellenlängen wahrnimmt. Das ist auch der Grund, weshalb man einen schönen Sonnenuntergang auf Fotos niemals so schön empfindet, wie wenn man davorsteht. Es zahlt sich also immer aus, das Handy bei Seite zu legen und den Moment im Hier und Jetzt zu genießen.
Farben haben zwei Komponenten: Einmal eine objektive, physikalische, äußere Komponente – nämlich die Wellenlänge – und dann eine subjektive innere Komponente, die auch als Wahrnehmung im Kopf bekannt ist. Diese Wahrnehmung spielt eine unglaublich große Rolle.
Wusstet ihr, dass wir Menschen sehr lange kein Blau sehen konnten? Das heißt nicht, dass wir keinen Blau-Rezeptor hatten, sondern, dass wir es einfach nicht besser wussten. Im Jahr 1858 machte der Engländer William Gladstone eine seltsame Entdeckung: Als Fan altgriechischer Literatur störte ihn beispielsweise die Ahnungslosigkeit des berühmten griechischen Autors Homers, was Farben betraf. In seiner „Odyssee“ sprach er von weinrotem Meer oder violetten Schafen. Ich kann schon jetzt verraten: Es war kein stilistisches Mittel und Homer war auch nicht farbenblind. Das gab Gladstone keine Ruhe, sodass er infolgedessen die Erwähnungen von Farben in der Literatur analysierte und zählte. Absoluter Spitzenreiter war nach Schwarz und Weiß die Farbe Rot, gefolgt von Gelb und Grün. Auch in anderen Kulturen tauchen als erstes die Farben Schwarz und Weiß auf. Danach Rot und wieder gefolgt von Gelb und Grün. Aber niemals ist zu dieser Zeit die Rede von Blau gewesen.
Wenn es also kein Wort dafür gab, bedeutet das, dass wir Blau nicht sehen konnten? Nein. Denn die Entwicklung von Benennungen für Farben entstand nach Notwendigkeit und Relevanz. Es musste also Gründe geben, eine Farbe beim Namen zu nennen und sie somit von anderen Farben unterscheiden zu können. Das erklärt auch, weshalb Schwarz und Weiß immer als erstes erwähnt wurden, denn sie bezeichnen dunkel und hell. Rot kommt demnach auch sehr häufig vor: Bei Blut, Beeren, Warnfarben und so weiter. Doch Blau taucht nur selten auf – in der Literatur, wie auch in der Natur. Findet man Blau in der Natur, empfindet man es als sehr intensiv und schön. So zum Beispiel bei Schmetterlingen, Insekten oder Korallen. Und auch dazu gibt es eine Erklärung: Die Farbe Blau entsteht in der Natur auf ganz andere Art und Weise als alle anderen Farben. Denn diese entstehen normalerweise durch Pigmente, die wie das Gelb aus den Lichtwellen absorbiert und als Farbe reflektiert werden.
So funktioniert das zum Beispiel auch bei grünen Blättern durch Chlorophyll, bei Haaren und Hautfarbe durch Melanine oder bei Flamingos durch Carotinoide. Der blaue Schmetterling namens Morphodidius aber – auch als fancy Emoji zu haben – hat im echten Leben keine blauen Farbpigmente. Sieht man sich den Schmetterling unter einem Mikroskop an, erkennt man eine feine Mikrorillen-Struktur. Diese absorbiert das Licht zwar nicht, aber alle Wellenlängen, die nicht blau sind. Diese werden so reflektiert, dass sie destruktiv interferieren – also sich ausklinken. Die Mikrostruktur des Schmetterlings liegt dabei genau in der richtigen Größenordnung, um die blaue Wellenlänge aus dem Licht auf unsere Netzhaut weiterzugeben. Dieses Phänomen kann man nicht nur bei diesem Schmetterling beobachten, sondern auch bei blauen Vogelfedern, Muscheln, Insekten, ja sogar blauen Augen. Denn es gibt so gut wie keine natürlichen Blau-Pigmente. Die Herstellung blauer Pigmente brachte uns Menschen also erst dazu, die Farbe Blau überhaupt zu benennen.
Aber was ist mit dem Himmel? Haben die Menschen denn nie nach oben gesehen? Natürlich! Allerdings haben wir den Himmel nicht als Blau wahrgenommen, bevor es kein Wort für Blau gab. Sogar heute gibt es in manchen Sprachen noch keine sprachliche Differenzierung zwischen Blau und Grün, wie zum Beispiel beim Himba-Stamm in Namibia. Dafür haben diese Menschen zahlreiche Benennungen für Grüntöne.
Die Tatsache, dass Blau so besonders ist, führt vermutlich in unserem Arbeitsalltag dazu, dass sich Kunden und Kollegen speziell bei Blau- und Grüntönen öfter uneinig sind. Das bedeutet aber nicht, dass wir die Farben unbedingt anders wahrnehmen, sondern dass vermutlich unser Sprachgebrauch über Farben winzige Abweichungen hat.
Mein Spaziergang zwischen den Kornfeldern endete übrigens mit einer überraschenden Regenwolke. Welche Farbe diese hatte? Violett.
– Juni 2022, Julia Hofmann